Universität des Saarlandes
Fachschaft Computerlinguistik
Proceedings 5. TaCoS

»This system develops perhaps some translator tomorrow«

Überlegungen zur Anwendung eines systemisch-funktionalen
Textgenerierungssystems in der Übersetzerausbildung

Robert Spence, Universität des Saarlandes
Fachbereich 8.6, Angew. Sprachwissenschaft, 66041 Saarbrücken
e-Mail: robert@dude.uni-sb.de

Zu den wichtigsten Problemen, vor die angehende ÜbersetzerInnen gestellt werden, gehört zweifelsohne die Überwindung von Interferenzfehlern. Solche Fehler treten insbesondere beim Übersetzen in die Fremdsprache auf und haben oft verheerende Auswirkungen. Der Überwindung solcher Fehler steht jedoch derzeit u. a. im Wege, daß in der Übersetzerausbildung an deutschen Hochschulen die Vermittlung von linguistischen Grundkenntnissen viel zu kurz kommt und daher eine systematische Auseinandersetzung mit den Hauptquellen der Interferenz zwischen Sprachsystemen grundsätzlich vom Studiengang ausgeschlossen zu sein scheint. Auch wird sich wohl an diesem bedauerlichen Zustand in naher Zukunft aufgrund der zur Zeit in den meisten Bundesländern herrschenden angespannten Haushaltslage nicht viel ändern.

Einen interessanten Lösungsansatz bezüglich der oben geschilderten Probleme böte aber der didaktische Einsatz eines systemisch-funktionalen Textgenerierungssystems. In computergestützten Übersetzungsübungen könnten Studierende zum Beispiel an der Überwindung der am häufigsten vorkommenden Interferenzfehler relativ selbständig (sprich: ohne teure Aufsicht durch Lehrkräfte), jedoch systematisch (sprich: programmgesteuert) arbeiten; Grundlage für die Entwicklung der dafür notwendigen Programme wären die bereits implementierten Satzgeneratoren NIGEL (für Englisch; vgl. [Mann/Matthiessen 1985]) und KOMET (für Deutsch; Kontaktperson: Dr. John Bateman) sowie ein im Aufbau befindlicher Korpus studentischer Interferenzfehler (Kontaktperson: Robert Spence), der bereits mehr als 250 000 zusammenhängende Wörter umfaßt.

Die aus dem Britischen Kontextualismus (vgl. [Steiner 1983]) hervorgegangene Systemisch-Funktionale Linguistik (vgl. [Halliday 1961, 1963, 1966, 1967, 1967/68, 1969, 1970, 1973, 1975, 1978, 1994]; [Halliday/Hasan 1976]; [Benson/Greaves 1985, 1988]; [Benson/Cummings/Greaves 1988]; [De Joia/Stenton 1980]; [Fawcett/Young 1988]; [Halliday/Fawcett 1987]; [Halliday/Martin 1981]; [Kress 1976]; [Martin 1988, 1992]; [Morley 1985]; [Fawcett 1980, 1981]; [Patten 1988]; [Hasan 1987]; [Henrici 1981]; [Nesbitt/Plum 1988]; [Teich 1992]), die den Satzgeneratoren als theoretische Grundlage dient, ist eine in Deutschland noch relativ wenig bekannte Richtung der modernen Sprachwissenschaft. Mitunter wirken die von ihr aufgestellten Forschungsziele sowie die damit verbundenen deskriptiven Ansätze zum Beispiel für Studierende der Computerlinguistik sogar etwas unverständlich, jedoch dürfte wohl allen Studierenden des Faches eine vor mehr als 20 Jahren erbrachte Glanzleistung im Bereich der Künstlichen Intelligenz bekannt sein: das von Terry Winograd entwickelte SHRDLU-System [Winograd 1972]. In diesem frühen natürlichsprachlichen Mensch-Maschinen-Dialogsystem ist ein Parser zum Einsatz gekommen, der stark an eine Mitte der 60er Jahre von M. A. K. Halliday entwickelte generative systemisch-funktionale Grammatik des Englischen angelehnt ist [Halliday 1964]. Dem SHRDLU-System folgten das in Edinburgh entwickelte PROTEUS-Dialogsystem [Davey 1979] sowie das am Information Sciences Institute der University of Southern California entwickelte PENMAN-Textgenerierungssystem, die ebenfalls auf systemisch-funktionalen Grammatiken des Englischen basieren. Der ursprünglich als Teilkomponente des PENMAN-Systems entwickelte Satzgenerator NIGEL ist derzeit eine der weltweit größten computerimplementierten generativen Grammatiken; wie auch sein Schwestergenerator KOMET ist sie völlig exportierbar (Anfragen an Dr. Eduard Hovy). Zu den weiteren Entwicklungen des NIGEL-Systems gehören neben KOMET u. a. auch Satzgeneratoren für Niederländisch, Französisch, Chinesisch und Japanisch, die derzeit an universitären Forschungsinstituten in Europa sowie in Australien entwickelt werden und in multilingualen Textgenerierungssystemen zum Einsatz kommen sollen (vgl. [Matthiessen/Bateman 1991]). Auch in dem EU-finanzierten DANDELION-Projekt (vgl. Steiner/Ramm 1993; Kontaktpersonen: Prof. Dr. Erich Steiner, Wiebke Ramm) spielt eine systemisch-funktionale Grammatik bei der Behandlung paradigmatischer Beziehungen neben einer für die Behandlung syntagmatischer Beziehung eingesetzten HPSG-Grammatik eine wichtige Rolle (vgl. [Kasper 1988]). Eine unabhängige Parallelentwicklung zum NIGEL-System stellt das an der Computational Linguistics Unit der University of Wales entwickelte GENESYS-System (Kontaktperson: Dr. Robin Fawcett) dar.

In der Systemarchitektur des PENMAN-Systems wird die Textplanung bis zur Satzebene von einem als 'Wirt' fungierenden Expertensystem durchgeführt; das Expertensystem weiß, 'was kommuniziert werden muß', weiß aber nicht, 'wie man Sätze bauen soll, um die kommunikativen Teilziele zu erreichen'. Der (als 'Parasit' einquartierte?) Satzgenerator dagegen weiß, wie man Sätze zur Erfüllung aller möglichen Kommunikationszwecke baut, weiß jedoch nicht, welche Kommunikationsziele gegenwärtig verfolgt werden bzw. welche Art von Satz am zweckmäßigsten wäre. Der Satzgenerator besteht aus logisch vernetzten Gruppierungen (Teilsystemen) von sich gegenseitig ausschließenden semantisch-syntaktischen Merkmalen (wie etwa Singular vs. Plural, unter der logischen Bedingung der Zählbarkeit); die Merkmale sind jeweils mit Realisierungsregeln versehen, die zur Bestimmung der syntaktischen Struktur beitragen und automatisch eingeschaltet werden, sobald das relevante Merkmal selektiert wurde. Um aber herausfinden zu können, welches Merkmal im jeweils aktiven Teilsystem zu selektieren ist, muß der Satzgenerator den sog. Chooser (Merkmalsselektionsexperten) für das jeweilige Teilsystem einschalten. Mittels mehrerer, einem Entscheidungsbaum zugeordneter Anfragen an den im Expertensystem gespeicherten Textplan trägt der Chooser das notwendige Wissen zusammen und erzwingt anschließend beim Satzgenerator die gegenwärtig erforderliche Merkmalsselektion.

Im Extremfall entspricht eine solche Systemarchitektur ziemlich genau der Situation von manchen Studienanfängern an Übersetzerausbildungsstätten, die zwar den Inhalt eines zu übersetzenden Ausgangstexts verstanden haben (vergleichbar dem Host-Expertensystem), jedoch der (fremden) Zielsprache nicht mächtig sind. Zur Erklärung der bei solchen Studierenden so häufig beobachteten Interferenzfehler kann eine Art 'Interlingua' postuliert werden, d. h. eine unvollkommene mentale Abbildung des fremdsprachlichen Satzgenerators, in der wichtige Aspekte des fremdsprachlichen semantisch-syntaktischen Merkmalnetzes bzw. seiner Realisierungsregeln sich gegen die entsprechenden Teilbereiche der Systemarchitektur bzw. Realisierungsregeln der Muttersprache noch nicht durchsetzen konnten. Als Beispiele für Interferenzfehler, für die Deutschmuttersprachler beim Übersetzen ins Englische besonders anfällig sind, werden (siehe Überschrift) das Zusammenspiel von textuell unmarkierter Thematisierung und textuell unmarkierter Informationsstruktur mit syntaktisch unmarkierter Satzstruktur im Englischen und im Deutschen sowie das Zusammenspiel von Tempus und Modalität in den beiden Sprachen mittels einfacher Systemnetze kontrastiv dargestellt und bezüglich der Systemarchitektur eines fiktiven 'Übersetzerausbildungssystems' im Rahmen eines Gedankenexperiments kurz erläutert.

Zu den für die praktische Realisierung eines solchen fiktiven Systems erforderlichen Erweiterungen bereits implementierter systemisch-funktionaler Satzgeneratoren gehörten unter anderem: ein vereinfachtes zielsprachliches semantisch-syntaktisches Systemnetz; interaktive graphische Darstellungsformen; der ausschließliche Einsatz von Deutsch als Metasprache; 'versierte' (auf den jeweiligen Text zugeschnittene) Merkmalsselektionsexperten; graphische Darstellung der Teilrealisierungen; sowie ein integrierter Parser (für Informationen zu systemisch-funktionalen Parsern: Michael O'Donnell ftp://ftp.itri.bton.ac.uk/pub/incoming/Mick/Parsing, dann Dekomprimierung auf einem Macintosh mit StuffIt). Weitere Quellen für allerlei Informationen in Sachen systemisch-funktionale Programmpakete sind Petey Sefton und Chris Nesbitt. Die meisten Programme benötigen entweder eine SUN oder einen größeren Macintosh. Allgemeine Anfragen an die systemisch-funktionale Gemeinde können an sysfling@u.washington.edu geschickt werden; Verwalter dieser Mailing-Liste ist Michael Toolan.

Literatur

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