Universität des Saarlandes
Fachschaft Computerlinguistik
Proceedings 17. StuTS

Ansätze zu einer
rhythmologischen Sprachtypologie

Andreas Dufter · c/o Schwarzkopf
Valleystraße 23/1 · 81371 München
e-Mail: dufter@informatik.uni-muenchen.de

1. Die phonetische Dichotomie »silbenzählend vs. akzentzählend«

Die Idee zu der in diesem Artikel referierten AG entstand aus einem Referat für das Hauptseminar »Phonologie«, welches im WS 94/95 an der Universität München unter der Leitung von Prof. Vennemann stattfand. In diesem Seminar ging es vorrangig um eine theoretische Erfassung der Phonologie des Standarddeutschen der Gegenwart von »oben« her, d. h. unter besonderer Berücksichtigung der Suprasegmentalia, welche in der älteren, etwa strukturalistisch orientierten Phonologie meist als für die segmentale Beschreibung irrelevante Epiphänomene angesehen wurden. Daß dem nicht so ist, daß vielmehr gerade die rhythmologische Struktur Einfluß auf die gesamte Phonologie einer Sprache hat und sogar einen interessanten sprachtypologischen Parameter darstellt, soll im folgenden illustriert werden, wobei die Ausführungen hauptsächlich auf den Forschungsüberblick in [Auer/Uhmann 1988] und die Weiterführung des dort entwickelten Ansatzes in [Auer 1993] basieren.

1.1 Zur Geschichte der Isochronie-Hypothese

Rhythmus, i. f. verstanden als »the temporal patterning of units such as syllables and phonological words« ([Auer 1993], S. 2), stellt nicht nur in stilisierter Sprachverwendung eine wichtige Größe bei der Organisation der Lautgestalten von Äußerungen dar. Vielmehr scheint Rhythmizität ein allgemeines kognitives Desiderat im Hinblick auf eine einfache Strukturierung und Speicherung von Wahrnehmungsdaten zu bilden. So fassen wir sogar akustisch völlig gleichmäßige Signale wie das Tropfen eines Wasserhahns oder das Ticken einer Uhr zu rhythmischen Gruppen zusammen.

Bereits 1775 erkannte Joshua Steele, daß rhythmische Organisation als Bezugsgröße immer (nicht nur in der Musik) ein festes Taktmuster, also eine Folge gleicher (isochroner) Zeitintervalle voraussetzt. Auch ein in der Folgezeit immer wieder vermuteter Zusammenhang zwischen der kognitiven Präferenz für rhythmisierte Signale und dem menschlichen Herzrhythmus von Systole und Diastole wird von ihm erstmals formuliert.

Wichtig für die neuere Diskussion innerhalb der Phonetik und Linguistik wurde jedoch die folgende Bemerkung von Pike (1945):

The timing of rhythm units produces a rhythmic succession which is an extremely important characteristic of English phonological structure. The units tend to follow one another in such a way that the lapse of time between the beginning of their prominent syllables is somewhat uniform.

[Pike 1945], S. 35 f.; zitiert nach [Auer/Uhmann 1988], S. 216

Die stärkste Formulierung der Isochronie-Hypothese findet sich aber bei [Abercrombie 1967]:

Although hesitation and other pauses tend at times to disguise the fact, all human speech possesses rhythm. [...] Rhythm in speech as in other human activities, arises out of the periodic recurrence of some sort of movement, producing an expetation that the regularity of succession will continue. [...] There are two basically different ways in which chest-pulses and stress-pulses can be combined, and these give rise to two main kinds of speech-rhythm. As far as is known, every language in the world is spoken with one kind of rhythm or with the other. In the one kind, known as syllable-timed rhythm, the periodic recurrence of movement is supplied by the syllable-producing process: the chest pulses, and hence the syllables recur at equal intervals of timethey are isochronous. [...] In the other kind, known as stress-timed rhythm, the periodic recurrence is supplied by the stress-producing process: the stress-pulses, and hence the stressed syllables, are isochronous [...].

[Abercrombie 1967], S. 96 f.; zitiert nach [Auer 1993], S. 3f.

In diesem Zitat werden zwei Kandidaten für rhythmische Bezugsrahmen genannt: die Silbe und das (phonologische) Wort. Abercrombie nimmt an, daß alle Sprachen Isochronie jeweils bzgl. einer der beiden Einheiten anstreben, wobei aufgrund der unterschiedlichen Silbenzahl verschiedener Wörter sich natürlich der jeweils andere Parameter anisochron verhält. Abercrombie benennt drei Beispiele von Sprachen, für welche er Isochronie auf der Ebene der Silben vermutet: Silbenzählend (i. f. sz., s. Anmerkung 1) sind ihm zufolge das Französische, Telugu (eine dravidische Sprache) und Yoruba (aus der Kwa-Gruppe); akzentzählend (i. f. az.) hingegen das Russische, Englische und Arabische.

Die Isochronie-Hypothese in ihrer zitierten, starken Form induziert folglich eine Bipartition auf der Klasse der Sprachen der Welt und könnte falls sie empirisch bestätigt werden kann eine typologisch interessante Grundlage der Sprachklassifikation bilden, insbesondere, wenn aus dem Isochronietyp einer Einzelsprache noch weitere Eigenschaften der phonologischen Gestalt ableitbar wären. Die wenigen in der traditionellen Sprachwissenschaft vorgeschlagenen phonologischen »Typologien« (Ton vs. Akzent, Druckakzent vs. musikalischer Akzent, iambische [romanische] vs. trochäische [germanische] Sprachen), s. Anmerkung 2, kranken ja alle daran, daß einzelne isolierte Parameter noch nicht typologisch relevant sind im Sinne einer weit verbreiteten Auffassung von Sprachtypologie, die an der Auffindung kohärenter, umfassend bestimmter Idealtypen der einzelsprachlichen Strukturierung interessiert ist.

1.2 Experimentelle Befunde

Doch zunächst untersuchten Phonetiker die empirische Grundlage von Abercrombies theoretischem Postulat besonders anhand des Englischen, welches allgemein als az. eingestuft worden war. Nach zahlreichen Untersuchungen ergab sich jedoch, daß die Isochronie-Hypothese zumindest in ihrer starken Form für das Englische nicht aufrecht erhalten werden kann, noch nicht einmal unter isochroniefördernden Vorlesebedingungen. Allerdings wurde festgestellt, daß drei- und mehrsilbige Füße systematisch mit Nebenakzent versehen werden, was zur gleichmäßigeren Fußbildung beiträgt, und v. a. Komprimierungseffekte, die als Tendenz zur Isochronie interpretiert werden können, häufig vorkommen, cf. exemplarisch die Daten unter (1):
(1)
Durchschnittliche Silbendauer in Abhängigkeit von der Fußgröße [Faure/Hirst/Chafcouloff 1980], zitiert nach [Auer/Uhmann 1988], S. 221

Länge des phonologischen Wortes [in Silben]: 1 2 3 4 5 7
Silbendauer [in cs]: 22 17 16 17 16 14

Auch zum Spanischen, welches dem sz. Typ zugeordnet worden war, waren die Meßergebnisse nicht eindeutig. [Delattre 1966] betont etwa, daß Struktur und Position der Silbe im Spanischen großen Einfluß auf ihre Länge haben; jedoch ist die Varianz der Silbendauer insgesamt deutlich geringer als im Englischen.

Während die bisher erwähnten experimentellen Befunde zumindest eine Tendenz zur Isochronie auf Silben- bzw. Fußebene erkennen ließen, erbrachte die Überprüfung der 6 Beispielsprachen von Abercrombie durch [Roach 1982] Ergebnisse, welche sogar gegen die Isochronie-Hypothese in einer abgeschwächten Form sprechen, da die Unterschiede der Silbendauer in beiden Gruppen etwa gleich sind, während die als az. postulierten Sprachen sogar größere Abweichungen der durchschnittlichen Fußdauer aufweisen:

(2a)
Standardabweichungen der Silbendauer in ms [Roach 1982], S. 74

Französisch 75,5 Englisch 86
Telugu 66 Russisch 77
Yoruba 81 Arabisch 76

(2b)
Standardabweichungen der Dauer eines Fußes in ms [Roach 1982]

Französisch 617 Englisch 1267
Telugu 870 Russisch 917
Yoruba 726 Arabisch 874

1.3 Kritik der Meßmethoden

Bei der Diskussion dieser phonetischen Befunde zur Isochronie geriet allerdings immer stärker die Kritik am experimental design in den Vordergrund: Allzu schnell war in vielen Fällen gemessen worden, ohne in der Phonetik schon lange bekannte Störfaktoren zu berücksichtigen. So hatte schon [Classe 1939] festgestellt, daß sich Füße an syntaktischen Grenzen weniger isochron verhalten als nicht-periphere, und auch Pausenstrukturen potentiell satzphonologisch relevant sind. Also müssen Messungen immer auch die syntaktische Gestalt der Äußerung und die Position der rhythmischen Einheit im Diskurs mitberücksichtigen.

Ferner wurde z. B. in Experimenten zum Englischen und Portugiesischen festgestellt, daß Auftakte (Silben vor der ersten Akzentposition) von der rhythmischen Organisation der Äußerung nicht betroffen werden, also extrarhythmisch sind. Darüberhinaus durchbricht auch die Tendenz zur phonetischen Dehnung von in einer Intonationsphrase finalen Einheiten (final lengthening) die Isochronie und demarkiert dadurch Tongruppengrenzen.

Noch in einem weiteren Punkt erweisen sich die Ergebnisse der Experimentalphonetiker als unangemessen im Hinblick auf unsere Fragestellung: Nicht das akustische Signal als solches ist entscheidend, sondern dessen Perzeption. Es zeigt sich in anderen Zusammenhängen, daß der postulierten Dichotomie doch eine gewisse psychologische Realität zukommt. So haben etwa Exophone eine verstärkte Wahrnehmung von in der fremden Sprache angelegten Tendenzen, außerdem zeigen Mitklopf-Experimente, daß mehr Rhythmus wahrgenommen wird, als physikalisch im untersuchten Signal vorhanden ist. [Fowler 1979] kommt sogar zu dem verblüffenden Schluß, daß die Sprecher bei der Artikulation rhythmisch isochroner Sequenzen genau die systematischen Anisochronien produzieren, welche die Hörer wiederum als isochron wahrnehmen. Da es jedoch weder ein eindeutiges artikulatorisches noch ein akustisches Korrelat dieses wahrnehmungspsychologischen Konzeptes gibt, ist die Isochronie-Hypothese wohl vom Phonetiker allein nicht entscheidbar.

2. Zur linguistischen Neuinterpretation des Isochronie-Konzepts

2.1 [Donegan/Stampe 1983]: Prosodie als Epiphänomen der Syntax

Da die rhythmische Struktur einer Sprache also nicht unabhängig von der menschlichen Sprachproduktion und -verarbeitung beschrieben werden kann, liegt es nahe, nach der Verankerung der perzipierten Isochronie in anderen Parametern des Sprachsystems zu suchen. Da ferner die Rhythmisierung von Äußerungen ebenso wie etwa syntaktische Regularitäten einen Teil unserer abstrakten Sprachkompetenz darzustellen scheint, unternahmen es [Donegan/Stampe 1983], anhand zweier Beispielsprachen (Sora und Khmer) nach einem Zusammenhang zwischen suprasegmentalen phonologischen Eigenschaften und phrasenstrukturellen syntaktischen zu fahnden. Dabei knüpften sie im Lautlichen zunächst nicht an die Isochronie an, sondern an die Position des »phrasalen Akzents«, der ihrer Auffassung nach entweder im linken oder im rechten Randbereich einer Phrase zu stehen kommt. Donegan/Stampe behaupten nun, daß fallender (linksperipherer) Akzent auf eine modifier-modified, d.h. OV-Serialisierung hindeute, steigender hingegen auf VO, da modifier i. a. neue Information darstellen.

[Auer 1993] weist jedoch zu Recht darauf hin, daß die Syntax von Spezifikator-Kopf-Strukturen nicht immer mit den semantisch bestimmten modifier-modified-Gliederung übereinstimmt. Ferner gibt es in den Sprachen nicht nur links- oder rechtsperipheren Akzent, so wie wir auch wortphonologisch nicht nur Erst- und Letztsilbenakzent finden. Weitere Probleme dieses Versuches einer Korrelation phonologischer und syntaktischer Struktureigenschaften von Sprachen ergeben sich aus den Voraussagen bzgl. der Segmentinventare und Tonalitätsphänomene: Die empirischen Überprüfungen von Auer anhand eines anderen OV/VO-Sprachpaares (Munda und Mon-Khmer) etwa ergaben hinsichtlich der phonologischen Systeme teilweise sogar gegenläufige Ergebnisse.

2.2 [Gil 1986]: Die Dichotomie »iambisch vs. trochäisch«

Ein weiterer Versuch einer Anbindung rhythmologischer bzw. akzentueller Eigenschaften einer Sprache an syntaktische Kategorisierungen wurde von [Gil 1986] unternommen. Das Begriffspaar »iambisch vs. trochäisch«, schon von Wilhelm Wundt in die Sprachklassifikation eingeführt, diente ihm dabei als Grundlage für eine empirisch breit angelegte Untersuchung. Interessanterweise ist die von Gil postulierte Korrelation von Phonologie und Syntax jedoch zu der Vorhersage von Donegan/Stampe genau entgegengesetzt.

Zusammenfassend halten wir fest, daß zwischen morpho-syntaktischen Serialisierungsmustern und der Verteilung rhythmischer Prominenzstellen im Satz bzw. der Äußerung kein signifikanter Zusammenhang besteht.

2.3 Zur phonologischen Definition von Rhythmus

Vielversprechender erscheinen jedoch Versuche, Sprachrhythmus phonologisch zu definieren. [Dauer 1987] etwa gibt die Kategorie sz. Sprachen ganz auf und liefert eine Bewertungsprozedur für den Grad der Akzentbasiertheit von Sprachen (s. Anmerkung 4). Diese Umdeutung der strengen Dichotomie »sz. vs. az.« in eine Skala »idealtypisch sz. idealtypisch az.« hilft einerseits, die phonetischen Befunde besser zu deuten, andererseits macht sie behauptete historische Wandlungen der rhythmischen Organisation von Sprachen verständlich, da ein abrupter Übergang nicht der graduellen Natur phonetisch-phonologischen Wandels entsprechen würde.

[Ladefoged 1986], S. 244 spricht in ähnlichem Zusammenhang von einer »conspiracy« verschiedener phonologischer Faktoren im Englischen, welche eine gewisse rhythmische Regularität gewährleisten; der Isochronietyp wird so zu einem Epiphänomen des phonologischen Systems einer Sprache. Im folgenden sollen in stark verkürzter Form einige Grundgedanken der von [Auer 1993] postulierten phonologischen Idealtypen »sz. vs. az.« deduktiv entwickelt werden:

In einer az. Sprache etwa sind aufgrund der erforderlichen Variabilität der Silbendauer eher Reduktionsphänomene wie z. B. reduzierte Vokale zu erwarten; in sz. Sprachen kann dagegen eher Quantität phonologisch distinktiv werden, da die Dauer von Einzelsegmenten in geringerem Maße suprasegmentalen Erfordernissen unterworfen ist. Da Töne v. a. in hoch sonoren Silben auftreten, also solchen ohne Reduktionsvokale, sind sie bei az. Sprachen nur in Akzentsilben in jedem Falle möglich, in sz. Sprachen jedoch überall realisierbar und somit wahrscheinlicher. Hingegen sollten in einer idealtypisch sz. Sprache keine intrinsisch kürzeren Phoneme wie zentralisierte oder stimmlose Vokale zu finden sein. Auch muß die Silbenstruktur in konsequenter Weiterverfolgung dieser deduktiven Argumentation in sz. Sprachen möglichst einfach sein, vor allem in der konsonantischen Koda, daher sind für diese Sprachen insbesondere intervokalische Konsonanten-Cluster ungünstig. Dagegen sind in einer az. Sprache Cluster sogar wahrscheinlich (cf. den Begriff »schwere Silbe«), eventuell sogar solche, welche gegen den universell präferierten Sonoritätsverlauf innerhalb einer Silbe verstoßen; als Folge dieser komplexen Konsonantenfolgen erwarten wir Assimilations- und Dissimilationsvorgänge.

Ferner kann die Bestimmung von Silbengrenzen in az. Sprachen schwierig sein, da akzentuierte Silben dazu neigen, bei schnellem Sprechen Konsonanten an sich zu ziehen, d. h. die Silbentrennung kann sogar in Abhängigkeit vom Sprechtempo variabel erfolgen. Sz. Sprachen hingegen können durchaus Geminaten aufweisen, da die für die Existenz von Geminaten erforderliche Eindeutigkeit der Silbengrenzen in diesen Sprachen ja gewährleistet ist.

Dafür werden Wortgrenzen eher in az. Sprachen phonologisch relevant, etwa indem initiale und finale Konsonanten eines phonologischen Wortes verstärkt werden, um die dominante prosodische Einheit zu demarkieren, und zwar durch bestimmte phonetische Prozesse, die im Wortinneren nicht vorhanden sind (z. B. Aspiration, [Prä-]Glottalisierung). Also ist in az. Sprachen die Opposition wortmedial wortperipher phonologisch relevant. Demgegenüber sind in sz. Sprachen die Wortgrenzen schwierig zu bestimmen, ja unter Umständen sogar Resyllabifizierungsprozesse über Wortgrenzen hinweg vorstellbar.

Unter (3) findet sich eine Zusammenstellung dieser und weiterer postulierter Eigenschaften der beiden rhythmologisch begründeten Idealtypen konsistenter phonologischer Systeme:

(3)
Silbenrhythmus vs. Wortrhythmus (nach [Auer 1993], S. 14)

Silbenrhythmus Wortrhythmus
keine akzentabhängigen Reduktionen Reduktion nichtakzentuierter Silben
[±lang] bei C und V aller Silben möglich keine distinktiven Qualitäten in unakz. Silben
Töne möglich keine Töne
einfache Silbenstruktur komplexe Silbenstruktur, evtl. nicht-optimaler Sonoritätsverlauf
wenig Assimilationsregeln häufige Assimilationen und Dissimilationen
Silbengrenzen eindeutig Gelenkbildung, Silbengrenzen können variabel sein
keine Wortbezogenen phonologischen Prozesse wortbezogene phonologische Prozesse
externe = interne Sandhiphänomene ¬ (externe = interne Sandhiphänomene)
Vokalharmonie möglich keine Vokalharmonie
phonetisch schwach markierter oder fehlender Wortakzent starker phonetischer Wortakzent
Wortakzent, falls vorhanden, fest, ohne grammatische Funktionen Regeln der Akzentuierung komplex, evtl. grammatikalische Funktionen
Geminaten möglich keine Geminaten
keine zentralen (reduzierten) Vokalphoneme zentrale Vokale als Phoneme möglich

3. Typologie nach phonologischen Hauptkategorien

[Auer 1993] überprüft die oben deduktiv postulierten Idealtypen anhand einer typologisch repräsentativen Stichprobe von 34 Sprachen. Insgesamt bestätigen die Befunde die Hypothese des ersten Abschnittes, jedoch wurde die postulierte zentrale Rolle des Wortakzents für az. Sprachen empirisch nicht bestätigt. Bereits [Trubetzkoy 1958] stellte fest, daß die Haupfunktion des Akzents »gipfelbildend« sei, also auf die Bildung eindeutiger rhythmischer Prominenzmaxima innerhalb eines phonologischen Wortes abziele. Somit gibt es Typen von Sprachen, die keinen Wortakzent haben, nämlich zum einen solche, bei denen alle Silben in etwa gleichen stress erhalten, zum anderen Sprachen, in denen manchmal mehr als ein Akzent auf ein Wort fällt.

Das Fehlen eines solchen eindeutigen Prominenzgipfel bedeutet jedoch noch nicht automatisch eine Abwertung der phonologischen Bedeutung der Worteinheit. So fanden sich in der Stichprobe von Auer drei Sprachen (z. B. die wegen ihrer clicks zu einer gewissen Berühmtheit gelangte Khoisansprache !xóo), die wortbezogen Töne zuweisen, jedoch keine Wortakzente im Trubetzkoyschen Sinne vergeben. Somit ergibt sich eine neue prototypikalische Dichotomie »Silben- vs. Wortsprachen« nach der das Lautsystem einer Sprache dominierenden »Hauptkategorie«. Dabei spielen Wortakzente in Silbensprachen eine geringere Rolle als in Akzentsprachen; das Fehlen eines Wortakzentes in einer Sprache erlaubt allerdings, wie wir gesehen haben, keinerlei Rückschlüsse auf ihren prosodischen Typ.

4. Illustrationen

4.1 Deutsch

Im Deutschen hat der Wortakzent eine zentrale, auch demarkative Bedeutung. Außerdem ist die Phonotaktik akzentuierter und nicht-akzentuierter Silben verschieden: So kommt Schwa nur in nichtakzentuierten Silben vor, die Silbengrenzen im Wortinnern sind teilweise unklar, auch ist die Anzahl der Silben oft variabel. Da ferner sogar Kompensationsprozesse wortbezogen ablaufen, steht das Deutsche dem Idealtyp der Wortsprache ziemlich nahe.

4.2 Französisch

Nach traditioneller Auffassung (cf. unter 1.: [Abercormbie 1967]) galt das Französische als sz. [Wenk/Wioland 1982] allerdings gelangten aufgrund ihrer Meßergebnisse zu der interessanten Vermutung, daß sich die Sprache isochron bezüglich der Ebene der rhythmischen Gruppen verhalte, welche phonetisch markiert sind durch Dehnung der letzten Silbe, cf. (4):
(4)
Dauer der rhythmischen Gruppen im Frz. [Wenk/Wioland 1982]

|| Il a sollicité ma collaboration || car Pierre aime toujours l'art ||
A (12 Silben) B (6 Silben)

Abschnitte A+B A B Pause zwischen A und B
Dauer [in cs] 341 162 148 30

Es ergibt sich eine beinahe perfekte Isochronie, v. a. wenn man die intervenierende Pause zu B rechnet.

4.3 Japanisch

Während nach der oben skizzierten Auffassung für das Französische Einheiten oberhalb des phonologischen Wortes große Bedeutung für die Sprachstruktur haben, gibt es Sprachen, deren Isochronizität bzw. Konstanz bzgl. eines metrischen Verfahrens auf eine prosodische Einheit unterhalb der Silbe Bezug nimmt. Das bekannteste Beispiel einer solchen, rhythmologisch auf Moren (phonologisch bestimmte Gewichtseinheiten auf der Ebene des Silbenreims) basierenden Sprache ist das Japanische (s. Anmerkung 6).

Literatur

[Abercrombie 1967]
Abercrombie, D.: Elements of General Phonetics. Edinburgh: Edinburgh University Press, 1967.

[Auer 1993]
Auer, P.: Is a Rhythm-Based Typology Possible? A Study On the Role of Prosody In Phonological Typology. KontRi Working Paper; 21. Hamburg: Germanisches Seminar, 1993.

[Auer/Uhmann 1988]
Auer, P./Uhmann, S.: Silben- und akzentzählende Sprachen: Literaturüberblick und Diskussion. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 7.2 (1988), S. 214-­259.

[Classe 1939]
Classe, A. The rhythm of English prose. Oxford: Basil Blackwell, 1939.

[Dauer 1987]
Dauer, R.: Phonetic and phonological components of language rhythm. In: Proceedings of the XIth International Congress of the Phonetic Sciences, Vol. 5, S. 447-­450. Talinn: Academy of Sciences of the Estonian S. S. R., 1987.

[Delattre 1966]
Delattre, P.: A comparison of syllable length conditioning among languages. In: International Review of Applied Linguistics (1966), S. 183-­198.

[Donegan/Stampe 1983]
Donegan, P. J./Stampe, D.: Rhythm and the holistic organization of language structure. In: Richardson, J. F. et al. [Hrsg.]: Papers from the Parasessioon on the interplay of phonology, morphology and syntax. S. 337-­353. Chicago: Chicago Linguistic Society, 1983.

[Faure/Hirst/Chafcouloff 1980]
Faure, G./Hirst, D. J./Chafcouloff, M.: Rhythm in English: Isochronism, pitch, and perceived stress. In: van Schooneveld, L. R./van Schooneveld, C. H. [Hrsg.]: The Melody of Language. S. 71-­79. Baltimore: University Park Press, 1980.

[Fowler 1979]
Fowler, C. A.: Perceptual centers in speech production and perception. In: Perception and Psychophysics 25 (1979), S. 375-­398.

[Gil 1986]
Gil, D.: A prosodic typology of language. In: Folia Linguistica 20 (1986), S. 165-­231.

[Ladefoged 1986]
Ladefoged, P.: A course in phonetics. New York: Harcourt Brace Jovanovich, ²1986.

[Pike 1945]
Pike, K.: The intonation of American English. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1945.

[Roach 1982]
Roach, P.: On the distinction between stress-timed and syllable-timed languages. In: Crystal, D. [Hrsg.]: Linguistic controversies: Essays in linguistic theory and practice in honour of F. R. Palmer, S. 73-­79. London: Arnold, 1982.

[Steele 1775]
Steele, J.: An essay towards establishing the melody and measure of speech to be expressed and perpetuated by peculiar symbols. Menston: The Scholar Press, 1969. [Reprint]

[Trubetzkoy 1958]
Trubetzkoy, N. S.: Grundzüge der Phonologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ³1958.

[Wenk/Wioland 1982]
Wenk, B./Wioland, F.: Is French really syllable-timed? In: Journal of Phonetics 10 (1982), S. 193­-216.

Anmerkungen

1
Die auch in der Phonologie gängigen Begriffspaare »az. vs. sz.« und »akzentmetrisierend vs. silbenmetrisierend« stammen aus der Literaturwissenschaft und sind nicht sehr treffend, [Auer/Uhmann 1988], Fn. 5 plädieren für »akzentisochron vs. silbenisochron«.

2
Cf. [Trubetzkoy 1958].

3
Im wesentlichen nach [Auer 1993], S. 1­29.

4
Ihre 8 Kriterien für eine (prototypische) az. Sprache sind: Unterschied der phonetischen Dauer ekzentuierter vs. unakzentuierter Silben, Vorkommen komplexer Silbenstrukturen, phonemische Vokalquantität, musikalischer Akzent (pitch), Ton, unterschiedliches Vokalsystem in unakzentuierten Silben, unterschiedliches Konsonantensystem in unakzentuierten Silben und Wortakzent.

5
Nach [Auer 1993], S. 51 ff.

6
Cf. [Auer/Uhmann 1988], S. 219.

Zurück zur Übersicht der Beiträge